Sonntag, 1. September 2019

Aristokratische Reformer (1): Tiberius Gracchus

Die Römische Republik hat von etwa 509 v. Chr. bis 27 v. Chr. bestanden und über einen Zeitraum von über dreihundert Jahren funktioniert. Ihr Ende begann mit den Bürgerkriegen, die einsetzten, als die Reformen der Brüder Gracchus scheiterten.

Tiberius Sempronius Gracchus, der ältere der Brüder, lebte von 162 v. Chr. bis 133 v. Chr. Besonders er ist als charismatische Persönlichkeit in die Geschichte eingegangen und sein Andenken wurde vom römischen Volk in Ehren gehalten. Er stammte aus einer der einflussreichsten Familien der römischen Aristokratie. Sein gleichnamiger Vater war Konsul gewesen, seine Mutter war Tochter des Scipio Africanus, des Siegers über Hannibal.

Die Römische Republik war keine reine Demokratie, sondern eine Mischform. Die mächtigsten Aristokraten, die Senatoren, stimmten sich über Gesetze und Vorgehensweisen ab, und nachdem sie einen Konsens erzielt hatten, legten sie die Gesetze der Volksversammlung vor, die ihnen zustimmte. Magistrate übten ihre Ämter zu zweit aus, kontrollierten sich also gegenseitig, und nach der Amtszeit musste eine Pause folgen, in der Beamte zur Rechenschaft gezogen und sogar vor Gericht gebracht werden konnten, wovor sie ihre Immunität während der Amtsausübung schützte. So sollte verhindert werden, dass die führenden Männer des Staates über einen längeren Zeitraum zu viel Macht inne hatten. Die Männer aus dem Volk waren mit ihren Patronen, Angehörigen der Aristokratie, verbunden. Die Patrone hatten eine Fürsorgepflicht ihren Klienten gegenüber und die Klienten revanchierten sich durch Unterstützung ihrer Patrone, vor allem in der Öffentlichkeit. Dadurch und durch Religion funktionierte der Zusammenhalt der römischen Gesellschaft.

Die Volkstribunen waren gewählte Beamte, die die Aufgabe hatten, das Volk vor dem Senat und seinen Beamten zu schützen. Niemand durfte sie angreifen. Wer diesem Gesetz zuwiderhandelte, wurde hingerichtet. Die Tribunen mussten während ihrer Amtszeit in Rom sein, in der Öffentlichkeit präsent sein und durften sogar nachts ihre Haustüren nicht abschließen. Somit konnte jeder aus dem Volk zu ihnen Kontakt aufnehmen und sie um Hilfe bitten. Mit ihrem Vetorecht konnten sie jeden Gesetzesbeschluss und jede staatliche Maßnahme stoppen. Deswegen wurden ihnen vom Senat die Gesetze zur Zustimmung vorgelegt, ehe sie vor die Volksversammlung kamen. Zur Zeit des Tiberius Gracchus amtierten 10 Volkstribunen jeweils für ein Jahr.

Tiberius Gracchus trat seinen Militärdienst sehr jung im Alter von fünfzehn Jahren an. Er erlebte die Niederlage des römischen Heeres vor Numantia in Spanien mit und musste den Kapitulationsvertrag mit den Iberern mitunterzeichnen. Der Senat lehnte die Umsetzung des Vertrages ab. Nur seiner vornehmen Herkunft verdankte es Tiberius, dass er nicht an die Feinde ausgeliefert wurde. Dieses Erlebnis prägte ihn. Er war mit dem Senat in Konflikt geraten, und durch das Pech zu Beginn seiner Laufbahn brauchte er einen großen Erfolg, um in Rom dennoch Karriere machen zu können.

Schon bei seiner Reise nach Spanien soll Tiberius die Belastung der Bevölkerung durch den Kriegsdienst aufgefallen sein. Viele Bauern konnten schlicht nicht mehr existieren, mussten teils auf den Gütern der Reichen mitarbeiten oder ihren Besitz ganz aufgeben. Manche zogen nach Rom in der Hoffnung auf ein besseres Leben, wo sie es aber auch schwer hatten, Fuß zu fassen oder gar eine Existenz aufzubauen. Seine griechischen Berater sollen Tiberius gedrängt haben, ein Ackergesetz wieder aufzugreifen, das die Vergabe des ager publicus, des Landes, welchem dem Staat gehörte, regelte. Dieses Land konnte von Privatleuten gepachtet werden, aber es waren vor allem reiche Großgrundbesitzer, die riesige Flächen bewirtschafteten, während der Großteil der Bevölkerung sich die Pacht einfach nicht leisten konnte. Tiberius Gracchus, der womöglich auch von seiner Mutter angestachelt wurde, sich politisch zu profilieren, fasste den Plan zur Reformation des Staates.

Er war mit diesem Plan nicht allein. Sein wichtigster Förderer war sein Schwiegervater Appius Claudius Pulcher, zu dieser Zeit princeps senatus. Weiterhin unterstützten ihn Mucius Scaevola und Licinius Crassus Mucianus. Es ist möglich, dass die Idee gar nicht von Tiberius ausging. Die Umsetzung aber konzentrierte sich immer mehr in seiner Person. Im Jahr 133 wurde Tiberius Gracchus Volktribun, Mucius Scaevola wurde Konsul. Im Senat stand man den Reformplänen kritisch gegenüber. Letztlich vertrat die Elite der Aristokratie die Interessen der Großgrundbesitzer, die auf ihren Ländereien investiert hatten und mit einer Umverteilung des Landes nicht einverstanden waren. Deswegen brachte Tiberius Gracchus das Gesetz direkt vor die Volksversammlung, überging also den Senat. Damit setzte er sich über die bisherige Verfahrensweise hinweg. Es war eine gewaltige Provokation, die er wagte.

Das Ackergesetz sollte den ager publicus neu und gerechter vergeben. Es sah eine Höchstgrenze für den Besitz von Land vor. Wer zu viel hatte, sollte abgeben. Profitieren sollten davon bisher besitzlose Bürger. Umsetzen sollte das Gesetz eine Dreimännerkommission, bestehend aus Tiberius Gracchus, seinem jüngeren Bruder Gaius und Claudius Pulcher, dem Schwiegervater des Tiberius. Als Geldmittel für die Umsetzung hatten die Reformer das Erbe des Königs von Pergamon vorgesehen, der sein Reich dem römischen Staat testamentarisch vermacht hatte. In einer sehr emotionalen Rede warb Tiberius für sein Gesetz. „Selbst Tiere haben ihren Unterschlupf“, argumentierte er, „aber die Männer, die für Italien kämpfen, haben nichts außer Luft und Licht und ziehen – quasi obdachlos – mit ihren Familien im Land umher.“ Die Art und Weise, mit der ein Aristokrat sich für die Armen einsetzte, berührt mich auch heute noch, auch wenn sein Vorstoß durchaus egoistisch motiviert war.

Die Gegner der Reform im Senat bedienten sich eines Volkstribunen, Marcus Octavius, um das Gesetz durch dessen Veto zu stoppen. Einen Misserfolg aber konnte und wollte sich Tiberius nicht leisten. Er und seine Anhänger ließen Octavius durch Volksbeschluss absetzen. Das aber war Verfassungsbruch und ein Verstoß gegen die Verfahrensweise des Staates, die auf Kommunikation und Konsens beruhte. Das Gesetz wurde vorerst durchgesetzt. Die Arbeit der Kommission gestaltete sich aber schwierig, da der Senat kein Geld für sie bewilligte und die Aufgabe an sich schon kompliziert war, weil es bei der Okkupation des ager publicus schon relativ willkürlich zugegangen war und das Gesetz wenig Chancen gegen das Chaos hatte. Tiberius Gracchus löste die finanzielle Frage durch Benutzung des Vermögens des pergamenischen Königs, worüber der Senat hätte entscheiden müssen. Dies war ein weiterer Verfassungsbruch.

Tiberius stellte sich erneut zur Wahl für das Amt des Volkstribunen. Er befürchtete mit Recht, angeklagt zu werden und auch in der Umsetzung des Gesetzes behindert zu werden. Mit seiner Bewerbung beging Tiberius Gracchus einen weiteren Verfassungsbruch, denn zwischen zwei Ämtern musste immer eine ämterlose Zeit liegen. Seine Gegner fürchteten, er strebe eine Alleinherrschaft an, gestützt aufs Volk, und sie verlangten, Gracchus gefangen zu nehmen. Als dieser sich weigerte, legten sie Trauerkleidung an. Tiberius zeigte sich von da an nur noch bewaffnet in der Öffentlichkeit.

Bei den Volksversammlungen ging es nicht zimperlich zu; Schmähungen und Unterstellungen waren an der Tagesordnung. Aber die Senatoren waren ebenso skrupellos. Die Reformgegner stürmten mit Schlägertrupps die Volksversammlung. Tiberius Gracchus und etwa 300 seiner Anhänger wurden erschlagen. Seine Leiche wurde in den Tiber geworfen, seine überlebenden Anhänger gerichtlich verfolgt. Wie mag es seiner Mutter Cornelia ergangen sein, wie seinem wesentlich jüngeren Bruder Gaius? Tiberius Gracchus ist als polarisierende Persönlichkeit in die Geschichte eingegangen. Obwohl seine Politik durchaus seiner eigenen Karriere diente, sind seine Ziele beachtlich. Er hat nicht etwa die römische Gesellschaft gespalten, wie ihm angelastet wurde, sondern er reagierte auf die Spaltung der Gesellschaft. Ein Auseinanderdriften der Gesellschaft, ein bewusstes Abhängen ganzer Schichten zugunsten des Reichtums einiger Weniger war schon immer Ursache gravierender gesellschaftlicher Krisen. Tiberius wollte eine Veränderung vorantreiben und hoffte, damit seinen politischen Aufstieg und seine Popularität zu befördern. Er war Volkstribun bis zum Äußersten und verging sich doch an der traditionellen und ehrenwerten Aufgabe jenes Amtes. Für seine Risikobereitschaft bezahlte er mit seinem Leben.

Literatur:

Bernhardt Linke: "Die römische Republik von den Gracchen bis Sulla", wbg Academic, 2015, ISBN 978-3534267132

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