Blog zum historischen Roman "Im Banne des Besten" mit Informationen über die Blütezeit des Römischen Imperiums
Montag, 8. Mai 2017
Marguerite Yourcenar und die Tränen des Kaisers
"Ich zähmte die Wölfin" von Marguerite Yourcenar mit dem Zusatz "Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian" (welcher dem französischen Originaltitel entspricht) zählt zu den berühmten historischen Romanen der Weltliteratur und bedeutet mir sehr viel.
Als Schülerin gierte ich nach jeder noch so kleinen Information über jene Geschichtsepoche, die mich faszinierte. Einiges an Literatur war in der Sächsischen Landesbibliothek, damals noch auf der Marienallee ansässig, zu finden. Die Ausleihe dort war zeitaufwändig und mir selbst zunächst gar nicht erlaubt, da ich noch nicht 18 Jahre alt war. Es war frustrierend, dort hinein zu wollen und nicht zu dürfen. Meine Mutter hat es ein paar Mal auf sich genommen, mich zu begleiten. Allein schon die Atmosphäre dort, den Geruch der alten Bücher und die Präsenz des gesammelten Wissens fand ich aufregend. Einige Bücher waren nicht für die Ausleihe nach Hause bestimmt. Sie standen im Lesesaal und durften auch nur dort gelesen werden. Belletristik gehörte dazu. Irgendwer musste den Roman "Ich zähmte die Wölfin" falsch einsortiert haben, denn wir durften ihn ein einziges Mal mit nach Hause nehmen.
Marguerite Yourcenar hat eine fiktive Autobiografie Kaiser Hadrians geschrieben. Ich war neugierig auf Hadrian, ganz besonders aber auf die Beschreibungen jener Zeit, als er noch nicht Kaiser war und Trajan herrschte. Endlich las ich Schilderungen, Beschreibungen, die meine Phantasie beflügelten. Ich "verschlang" dieses wunderbare Buch innerhalb weniger Stunden. Erst beim wiederholten Lesen spürte ich, dass es nicht nur lebendig gewordene Geschichte beinhaltet, sondern vielmehr ein vollendetes Kunstwerk ist. Dies ist, da sich das Buch so mit Genuss liest, bemerkenswert. Nicht jedes Kunstwerk kommt so abgerundet, so schön daher. Dieses Werk ist jedoch nicht mit Leichtigkeit verfasst worden, auch wenn man beim Lesen mitunter diesen Eindruck hat. Marguerite Yourcenar hat über einen langen Zeitraum immer wieder daran gearbeitet. Es verströmt Reife und Vollendung. Ich bin jenem Bibliothekar, der das Buch in den falschen Bereich gestellt hat, bis heute dankbar - aber nicht nur ihm.
Man durfte das Buch lesen, aber es war in der DDR nicht im Handel erhältlich. Mit meinen Großeltern, die in der Bundesrepublik lebten, verband mich ein intensiver Briefwechsel über die verschiedensten Themen. Besonders mein Großvater nahm Anteil an meinem Interesse für römische Geschichte. In einem Brief erwähnte ich den Roman von Marguerite Yourcenar. Und als meine Großeltern zu Weihnachten zu Besuch kamen, bekam ich ihn zu meiner großen Überraschung geschenkt. Ich kann mich an mehrere Weihnachtsgeschenke erinnern, über die ich mich sehr gefreut habe, aber jenes Geschenk übertraf alle anderen. Es war viel mehr als ein Buch. Da öffnete sich eine Tür. Ich war und bin meinen Großeltern unendlich dankbar für ihre Einfühlsamkeit. In der heutigen Zeit, wo Wissen jederzeit per Mausklick verfügbar ist, denke ich immer wieder an jenen magischen Moment zurück, als ich "Ich zähmte die Wölfin" endlich bei mir haben durfte, um darin lesen zu können, so oft ich wollte.
Marguerite Yourcenars Stil ist so vollkommen, dass ich es nie wagen würde, sie als Vorbild zu bezeichnen. Für mich steht sie neben Großmeistern der Literatur wie Lew Tolstoi ("Krieg und Frieden"), Lion Feuchtwanger ("Josephus-Trilogie") und Sten Nadolny ("Die Entdeckung der Langsamkeit") - Autoren, deren Werke ich liebe und verehre und die ich auf meinem persönlichen Literatur-Olymp ansiedle, oder, wie es ein Römer des ersten Jahrhunderts vielleicht sagen würde: nahe bei den Sternen. Hadrian, der ein vielseitig begabter Mensch war, schrieb und dichtete selbst, aber Marguerite Yourcenar hat ihm, indem sie seine Memoiren schrieb, einen großen Dienst erwiesen. Denn mit Sicherheit war sie ihm in ihrem literarischen Können überlegen.
Ein großes, unerreichbares Vorbild ist sie für mich in ihrer Genauigkeit der Recherche. Sich eine Fülle von Wissen und Eindrücken aneignen, um aus jener Fülle das Wesentliche zu extrahieren: so arbeitet, wer sich für sein Thema leidenschaftlich interessiert. Es ist eine Wohltat, einem solchen Werk zu begegnen.
Bei Marguerite Yourcenar konnte ich mir von Hadrian und Trajan erstmalig ein Bild machen: sie rückten näher. Eine Szene hat mich besonders berührt: Hadrian war davon berichtet worden, wie Trajan, im Partherkrieg am Persischen Golf angekommen, sich abends an den Strand gesetzt und dort in einer ersten Ahnung seiner Sterblichkeit Tränen vergossen hat, er, von dem - so der fiktive Hadrian - niemand gedacht hatte, dass er je weinen könne. Der Roman und jene Szene haben meine Vorstellung von beiden Herrschern geprägt. Umso erstaunter war ich, als ich später im "Panegyrikus" Plinius des Jüngeren las, dass Trajan sogar mehrmals in der Öffentlichkeit Tränen vergossen hat. Plinius erwähnt dies, um Charaktereigenschaften des Princeps herauszuarbeiten: die Liebe und Pietät seinem verstorbenen Adoptivvater Nerva gegenüber (11,1), seine Bescheidenheit, als ihn die Beifallrufe der Senatoren zu Tränen rührten (73,4) und seine Treue als Freund, als er dem Kommandanten seiner Garde erlaubte, sich ins Privatleben zurückzuziehen (86,4).
Wären Tränen eines Herrschers in der Öffentlichkeit damals als peinlich oder unmännlich angesehen worden, hätte Plinius sie wohl kaum erwähnt.
Die Frage, ob Marguerite Yourcenar den Panegyrikus kannte, ist von untergeordneter Bedeutung. Als Künstlerin hat sie Trajan auf ihre Weise gesehen und beschrieben, ebenso Hadrian, um den es ja vorrangig geht. Ihr Roman stand in einer wissenschaftlichen Bibliothek und ich finde, zu Recht.
Quellen und Literaturtipp:
Marguerite Yourcenar: Ich zähmte die Wölfin, Dtv, München 1998, ISBN-10: 3423124768;
Plinius der Jüngere: Panegyrikus, Herausgegeben, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Werner Kühn, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, ISBN 0174-0474, ISBN 3-534-09220-1
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