Sonntag, 18. April 2021

Tiberius: Tyrann oder tragische Gestalt?

Es ist schwierig, sich ein Bild des zweiten römischen Kaisers zu machen. Tacitus und Sueton urteilten sehr ungünstig über ihn. Heute versucht man, zu differenzieren und die Leistungen des Tiberius zu würdigen.

Unter ihm wurde das Prinzipat in Rom eine Erbmonarchie. Die Voraussetzungen dafür hatte Augustus geschaffen, und der Senat hatte Tiberius als Princeps bestätigt. Somit stand fest, dass es keine Rückkehr zur Republik mehr geben würde. Damit projizierte sich die Abneigung von Anhängern der alten Republik auf Tiberius. Die Zunahme von Majestätsprozessen unter seiner Herrschaft, die dem Zerwürfnis aristokratischer Familien und ihrem Konkurrenzkampf geschuldet war, wurde dem Kaiser angelastet. Darüber hinaus war Tiberius kein besonders umgänglicher Mensch. Er hätte sich in dieser Hinsicht mehr bemühen müssen. Dass er den Titel „Vater des Vaterlandes“ ablehnte, kam nicht gut an. Bescheidenheit mag ein Grund dafür gewesen sein. Tiberius lehnte viele Ehrungen ab und Schmeicheleien waren ihm zuwider. Den Titel „Augustus“, den ihm sein Vorgänger vererbt hatte, trug er nur in amtlicher Korrespondenz. Doch er war ein Aristokrat durch und durch. Seine Herkunft bestimmte ihn dazu, an der Spitze des Staates zu stehen. Er war pragmatisch, konnte aber auch arrogant sein.

Während er als Feldherr vorbildlich agierte, persönlich für das Wohl seiner Soldaten und Offiziere sorgte, geradezu aufopfernd war, im Feldlager sehr einfach lebte und dort auch respektiert wurde, konnte er die Zuneigung der römischen Bevölkerung nicht gewinnen. Auch dem Senat entfremdete er sich. Es ist schwer fassbar, warum er das, was ihm während seiner Militärkommandos perfekt gelang, nicht im zivilen Leben ebenso umsetzen konnte. Das zivile Leben der römischen Gesellschaft mit Intrigen und Selbstdarstellung war nichts für Tiberius. Jener Mann war nicht kaltherzig, sondern empfindlich und ihm fehlte das dicke Fell, das für einen Politiker geradezu obligatorisch war und ist. Tiberius hätte in seiner ersten, harmonischen Ehe verbleiben sollen. Die richtige Frau an seiner Seite hätte Vieles ausgleichen können. Nicht Tiberius war der gefühlsarme Klotz, sondern Augustus, wenn er Menschen wie Figuren benutzte und rücksichtslos seinen Plänen opferte. Der zweite Princeps war kein Heuchler: Tiberius hatte, im Unterschied zu seinem Vorgänger, kein Talent zum Schauspielern.

Er setzte den Ambitionen seines Neffen Germanicus ein Ende, als dieser nicht davon ablassen wollte, Krieg in Innergermanien zu führen, der keine nennenswerten Erfolge brachte, aber kostspielig und verlustreich war. Überhaupt verzichtete Tiberius auf Eroberungen. Auch darüber mögen sich ehrgeizige Offiziere und Senatoren geärgert haben. Er wirtschaftete sparsam, galt sogar als geizig und ließ keine Prachtbauten errichten, so dass er nach seinem Tod eine gut gefüllte Staatskasse hinterließ. Sein Nachfolger brauchte allerdings nicht lange, um sämtliche Reserven durchzubringen.

Tiberius war ein zurückhaltender Mensch und somit schon von vornherein keine Idealbesetzung für ein so öffentliches Amt, das eine gewisse Freude am Repräsentieren erforderte. Hinzu kam, dass ihn die jahrelange Zurücksetzung durch Augustus prägte. Er war nicht mehr der Jüngste, als er 55-jährig Kaiser wurde. Er war ein harter Arbeiter, der alles erledigte, was ihm aufgetragen wurde. Dass er angesichts der Verantwortung, die ihm übertragen wurde, zurückschreckte und mehrmals von Rücktritt sprach, wurde ihm als Heuchelei ausgelegt, aber wahrscheinlich war er einfach nur ehrlich.

Jener Mann, der als unkommunikativ und hölzern galt, war sehr gebildet. Er beherrschte die griechische Sprache, schätzte die griechische Literatur und auch die Poesie. Er verfasste selbst Gedichte. In seinem freiwilligen Exil auf Rhodos bewegte er sich wie ein Privatmann und fühlte sich dort wohl. Sein besonderes Interesse galt der Mythologie.

Als Kaiser hatte sich Tiberius volksnah zu geben, für die Menschen da zu sein, er hatte Empfänge zu geben, sich im Theater, Amphitheater, im Circus Maximus sehen zu lassen, und in der Öffentlichkeit Bittsteller zu empfangen. Diese Pflichten hat Tiberius nicht erfüllt. Wenn er schon kein Talent zu öffentlichen Auftritten hatte, hätte er sich zumindest beraten lassen können, um sich ab und an Gesten abzuringen. Das war die Tragik, die zur Folge hatte, dass sich Menschen von ihm abwandten und er sich wiederum zurückzog.

Die letzten zehn Jahre seiner Herrschaft verbrachte er auf der Insel Capri. Prinzipiell konnte das römische Imperium von fast überall aus regiert werden. Es war jedoch ein Unterschied, ob das aus Notwendigkeit - während eines Feldzuges - geschah, oder ob der Herrscher freiwillig der Hauptstadt den Rücken kehrte. Auch Augustus hat mit Livia längere Zeit auf Samos gelebt, aber Agrippa, sein Stellvertreter in Rom, war absolut loyal – im Unterschied zu Seian. Tiberius hatte sich, wohlgemerkt, nicht ins Privatleben zurückgezogen. Er regierte das römische Imperium von Capri aus. Das ist ungefähr so, als ob die Bundeskanzlerin von der Insel Hiddensee aus ihren Amtspflichten nachgehen würde. Und vor zweitausend Jahren gab es weder Telefon noch Videokonferenzen! Die Kommunikation zwischen Kaiser und Senat war eingeschränkt und durch Verzögerungen beeinträchtigt. Dadurch, dass nur ein beschränkter Personenkreis Direktkontakt mit Tiberius hatte, waren er und das Schicksal des Staates diesem Personenkreis ausgeliefert. Wie objektiv konnte Tiberius unter diesen Umständen noch sein? Er war von seinem Wirkungsfeld abgeschnitten wie dieses von ihm. Genau das sollte dann auch zum Problem werden. Darüber hinaus war dieser Rückzug in die Abgeschiedenheit schlicht untragbar für einen Mann in dieser Position. Er hätte auf Grund seines Alters auch abdanken können. Warum tat er es nicht, wo er doch die Herrschaft als Bürde empfand? Der Diktator Sulla legte sein Amt nieder, als er seine Aufgabe als erfüllt ansah, und war noch einige Monate Privatmann, ehe er starb. So etwas war also nicht undenkbar.

Der römische Kaiser war eine öffentliche Person und hatte sich in angemessenem Rahmen auch öffentlich zu zeigen. Dass Tiberius die Spiele im Amphitheater nicht mochte, ist zwar nachvollziehbar, aber auch in dieser Hinsicht hätte er kompromissbereit sein müssen.

Die Gerüchte über sein Treiben auf Capri, seine Ausschweifungen und Grausamkeiten werden heute nicht mehr ernst genommen. Die Menschen erfanden ein Monster, das auf der Insel sein Unwesen trieb, weil sie es nicht besser wussten. Tatsächlich hat Tiberius die Verbindung nach Rom aufrechterhalten, ging auch mal an Land und näherte sich sogar der Stadt. Als sein allmächtiger Prätorianerpräfekt Seian zu gefährlich und machtbesessen agierte, reagierte Tiberius durch einen Brief an den Senat, in Folge dessen der Präfekt und seine Familie zum Tode verurteilt wurden. Doch wäre das nicht der richtige Moment gewesen für den Kaiser, nach Rom zurückzukehren? Vermutlich wagte er es nicht: er fürchtete sich vor den Menschen und vor Verschwörungen, und wahrscheinlich hatte er resigniert.

Tiberius hat das römische Imperium 23 Jahre in Stabilität regiert. Diese Leistung wurde und wird zu selten gewürdigt. Er stand immer im Schatten seines Stiefvaters Augustus. Tiberius hatte kein leichtes Leben, hatte einige Schicksalsschläge zu verkraften und war schwierigen Beziehungen ausgesetzt. Er wurde nach seinem Tod nicht unter die Staatsgötter erhoben, aber er verfiel auch nicht der damnatio memoriae, der Tilgung seines Andenkens. Auf Grund seiner Fähigkeiten und Leistungen hätte er einer der besten unter den römischen Kaisern sein können. Das wusste er nicht, er konnte es auch nicht wissen – es gab noch zu wenige Vergleichsmöglichkeiten. Die Missverständnisse und unglücklichen Fügungen in seinem Leben machten ihn zur tragischen Gestalt. Aber dass er den Menschen fremd wurde, die er regieren wollte, lag überwiegend an ihm.

Literatur:

Holger Sonnabend: Tiberius, Kaiser ohne Volk, Zabern-Verlag, 2021, ISBN 978-3-8053-5258-1

Suetons Kaiserbiographien, Langscheidtsche Bibliothek, Band 106, 1914

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