Sonntag, 4. Februar 2018

Dion Chrysostomos von Prusa

Wenn ich mich mit Geschichte beschäftige, frage ich mich manchmal, wie aussagekräftig ein Fragment für die Gesamtheit eines Themas ist. Würde ein Teil meines Hausrats in ferner Zukunft analysiert, würden Wissenschaftler zufällig meinen Kosmetikkoffer mit den Schminkutensilien finden, dann könnte sie der Fund zu dem Schluss verleiten, dass ich viel Zeit und Mühe für das Make-up aufwende. Die Wahrheit ist jedoch: Das Köfferchen ist gefüllt mit guten Vorsätzen, mehr auf mein Äußeres zu achten. Tatsächlich verwende ich nur einen Bruchteil dieser Produkte - und dies sehr selten.

Die philosophisch interessierte Kaiserin Plotina hätte ihre Freude an einer Debatte über das Thema gehabt. Aber auch Dion von Prusa hätte dazu sicher Einiges beizusteuern. Dion oder auch Dio, wie man ihn in der römischen Welt nannte, stammte aus Prusa in Bithynien - jener Provinz, in der Plinius der Jüngere kaiserlicher Sonderbeauftragter war. Dion war angesehener Bürger der Stadt, hatte dort ein Haus und Grundbesitz. Als Redner reiste er viel und weilte schon unter den flavischen Kaisern in Rom. Unter Domitian geriet er in den Verdacht, Freund eines Mitverschwörers zu sein, und wurde sowohl aus Rom und Italien als auch aus seiner Heimat Bithynien verbannt.

Während seiner Verbannung reiste Dion als kynischer Wanderprediger durch verschiedene Länder. Man darf die Kyniker der Antike nicht mit den Zynikern im heutigen Sinne gleichsetzen. Jene antiken Philosophen wählten die Askese nach dem Motto: Wer nichts hat, kann nichts verlieren. Die Kyniker sprachen sich für einen Rückzug aus der Öffentlichkeit aus. Sie strebten nach Glück und persönlicher Freiheit, die nur erreichbar war, wenn sie sich aus der Gesellschaft zurückzogen. Derartige Bestrebungen finden sich auch bei anderen philosophischen Schulen wie den Stoikern und Epikureern, aber auch im Christentum. Die Kyniker fühlten sich an hohe ethische Grundsätze gebunden und neigten zu Übertreibungen und Provokationen, um Wirkung zu erzielen. Kyniker sollen das römische Volk gegen die jüdische Prinzessin Berenike aufgebracht haben, was zur Folge hatte, dass der künftige Kaiser Titus sich von ihr trennte und sie Rom verlassen musste. Der berühmteste Kyniker war Diogenes von Sinope, der in freiwilliger Armut lebte. Diogenes wurde wegen seiner "Bissigkeit", aber auch seiner Lebensweise, die der eines Straßenköters glich, als "Hund" bezeichnet. Diogenes nahm diese Bezeichnung an, und fortan gehörte sie zu den Kynikern.

Die Kyniker verwickelten die Menschen in Streitgespräche, Dialoge. Jene Diskussionen waren sicher faszinierend, aber ich kann mir vorstellen, dass die Leute nicht immer dafür aufgeschlossen waren. Von Dion sind aber auch Reden, Monologe, überliefert. Er betrachtete seine Verbannung - ganz Philosoph - als Prüfung seiner Persönlichkeit. Er musste Gelegenheitsarbeiten übernehmen, um durchzukommen, und manchmal bettelte er auch. Seine Gesundheit litt unter diesem Leben. Es ist möglich, dass er zeitweise inkognito reiste und Reden gegen den Kaiser hielt, der ihn verbannt hatte. Nach Domitians Ermordung hob Kaiser Nerva die Verbannung auf. Dion wurde sein Freund und nahm als Zeichen der Verbundenheit mit dem Herrscher den Namen Cocceianus an.

Nerva regierte nur zwei Jahre lang; sein Nachfolger wurde Trajan. Dion kam wahrscheinlich im Jahr 100 nach Rom. Er führte eine Gesandtschaft an, die Vergünstigungen für seine Heimatstadt Prusa erbitten wollte. Er hatte Erfolg und blieb länger in der Stadt als geplant, denn zwischen ihm und Kaiser Trajan entwickelte sich eine persönliche Freundschaft. Mehr noch: Dion war zeitweise philosophischer Berater des Kaisers. Er hielt vor ihm und dem Hof Reden über das Königtum, in dem er ein Bild des idealen Herrschers entwarf. Seiner eigenen Aussage nach hatte er persönlichen Umgang mit Trajan und kannte dessen Charakter. Auch nahm sich der Kaiser Zeit für Gespräche. Es ist möglich, dass er von seiner Gattin Plotina, vielleicht auch von seinem Freund Sura dazu angeregt wurde, aber ich möchte dem Herrscher nicht die Eigeninitiative in dieser Angelegenheit absprechen. Denn: Wir wissen nichts Genaues. Während eines Ausflugs soll der Kaiser zu Dion gesagt haben: "Ich verstehe nicht, was du sagst, doch ich liebe dich wie mich selbst." (Zitat bei Sylvia Fein: "Die Beziehungen der Kaiser Trajan und Hadrian zu den litterati", Teubner Verlag, Stuttgart 1994, S. 233). So reizvoll es ist, darüber nachzudenken, wie Trajan diese Worte wohl gemeint hat, wenn die Aussage überhaupt authentisch ist: Wir werden es nicht genau erfahren. Sir Ronald Symes Meinung ("Tacitus", Volume I, Oxford University Press, 1958, S. 40), Trajan hätte in seiner Rolle als einfacher, volksnaher Herrscher übertrieben, da Dion keine komplizierten Gedanken ausbreitete, die ihn überforderten, sondern Reden über die ideale Monarchie hielt, überzeugt mich nicht, denn letztlich weiß niemand, welche Themen bei jenem Ausflug besprochen wurden.

Die römische Oberschicht der damaligen Zeit orientierte sich an philosophischen Strömungen. Somit wirkt das Verhältnis zwischen Dion und Trajan nicht wie ein Einzelfall. Möglicherweise war der Kaiser mit Angehörigen der stoischen Senatsopposition verwandt; Seneca war zumindest ein Landsmann, vielleicht persönlicher Bekannter seines Vaters, eventuell auch ein Verwandter.

Im Jahr 101 reiste Dion mit Trajan an die Donau. Der Kaiser führte Krieg gegen das Dakerreich. Der Philosoph hat eine Schrift "Getika" verfasst, die sich mit den Dakern befasste und die nicht überliefert ist. Er reiste vermutlich von der Donau aus zurück nach Bithynien. Es wird angenommen, dass er zwischen 115 und 120 starb.

Literatur:

Hans von Arnim: Leben und Werke des Dio von Prusa, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1898

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